Titelbild: Adobe Stock © cristovao31
Wenn man frischgebackene Mütter beim ersten Anlegen begleitet, so bekommt man nicht selten einen zweifelnden Blick zugeworfen und die Mutter sagt: „Aber da ist doch noch gar nichts!“
Etwas unglaublich Wertvolles
„Im Gegenteil!“, ist dann meist meine Antwort. „Natürlich ist da schon etwas, sogar etwas sehr wertvolles und das auch noch in genau der richtigen Menge!“ Während der Schwangerschaft fahren die Hormone nicht nur wegen des heranwachsenden Babys manchmal Achterbahn. Der Körper jeder Schwangeren bereitet sich, sozusagen nebenher, auch auf die Zeit nach der Geburt vor, in der das Baby Muttermilch braucht. Unter anderem das milchbildende Hormon Prolaktin steigt bereits in der Schwangerschaft stark an, wird aber noch durch ein anderes Hormon, welches von der Plazenta gebildet wird, sozusagen „in Schach“ gehalten. Sobald die Plazenta geboren wurde, stellt der mütterliche Körper alle Zeichen auf „Milchbildung“. In der Brust bildet sich aber auch in der Schwangerschaft bereits die Neugeborenenmilch, das sogenannte Kolostrum.
Genau das Richtige, zur richtigen Zeit, in der richtigen Menge
Dass das Kolostrum bereits in der Schwangerschaft gebildet wird, können manche Frauen daran merken, dass ab und an ein Tropfen gelblicher Milch im BH zu sehen ist. Wenn das Neugeborene also in den ersten Stunden und Tagen an Mamas Brust trinkt, so steht diese erste Mahlzeit nicht nur bereit, sondern ist in idealer Weise auf das Baby abgestimmt – in Menge wie auch in der Zusammensetzung. Kolostrum ist reich an Immunglobulinen, welche das noch untrainierte Immunsystem des Neugeborenen unterstützen. Der kindliche Darm wird durch das Kolostrum optimal mit förderlichen Bakterien „besiedelt“ und erhält Hilfe bei der weiteren Reifung. Es wirkt außerdem anregend auf die Darmtätigkeit des Neugeborenen und erleichtert die Ausscheidung des ersten Stuhlgangs, des sogenannten Mekoniums (wegen der tiefgrünen fast schwarzen Farbe auch Kindspech genannt).Zusätzlich ist die Zusammensetzung leicht verdaulich, der Eiweißgehalt ist höher als in „reifer“ Muttermilch, Fett und Kohlehydrate sind im Vergleich zu reifer Muttermilch anteilsweise weniger.
Habe ich wirklich genug Milch?
Gerade den Fakt, dass bereits bei den ersten Anlegeversuchen genügend Neugeborenenmilch in der Brust ist, zweifeln leider viele Frauen an. Die Vorstellungen davon wieviel ein Neugeborenes in den ersten Stunden trinkt sind meist überzogen. Der Magen eines wenige Stunden alten Babys ist nicht größer als eine Kirsche. Entsprechend ist die Trinkmenge am ersten Tag pro Mahlzeit durchschnittlich etwa 7ml (variiert zwischen 2-14ml). Da das Kolostrum wie beschrieben sehr leicht verdaulich ist und Magen und Darm recht rasch passiert, ist es gut, wenn ein Neugeborenes häufige kleine Mahlzeiten zu sich nimmt. Das ist für dessen Verdauungssystem gut und regt gleichzeitig die Milchproduktion der Mutter wunderbar an. Mitverantwortlich für die Befürchtung mancher Mütter, in den ersten Tagen nicht genug Milch für ihr Baby zu haben ist bestimmt auch der Begriff „Milcheinschuss“ für die anfängliche Schwellung des milchbildenden Gewebes, welche so etwa ab dem 3. Tag nach der Geburt zum Tragen kommt. Dieser sehr missverständliche Begriff suggeriert, dass zu diesem Zeitpunkt plötzlich Milch da ist, die vorher nicht da war. Die deutlich merkbare Schwellung kommt aber in Wahrheit nicht ausschließlich von der sich nach und nach in der Menge steigernden Muttermilch. Der andere Teil der Schwellung kommt z.B. durch die gesteigerte Durchblutung und angestaute Lymphflüssigkeit. Der Übergang zwischen der goldgelben manchmal etwas dickflüssigen Neugeborenenmilch dem Kolostrum zur „reifen Muttermilch“ ist fließend und erfolgt nach und nach. Wenn das Baby nach Bedarf stillen darf, d.h. es darf trinken wann es möchte und so lange es möchte, so steigert sich die Milchmenge der Mutter quasi gleichzeitig mit der Erhöhung der Kapazität des Babymagens.
Und was ist, wenn mein Baby in den ersten Stunden noch gar nicht trinken mag?
Manche Babys sind in den ersten Stunden noch etwas mitgenommen und scheinen noch gar nicht an die Brust zu wollen, weder früh noch häufig. In diesen Fällen hilft zum einen ausgiebiger Hautkontakt, also Haut-auf-Haut kuscheln auf dem Oberkörper der Mutter. So können sich diese Babys durch den einmaligen „Mamaduft“ sozusagen Appetit holen. Auf der anderen Seite verpasst man so die zarten Hungerzeichen nicht, falls das Baby doch trinken möchte. Zusätzlich kann die Mutter dem Baby auf die Sprünge helfen, indem sie immer wieder ein paar Tropfen Kolostrum von Hand ausstreicht bzw. „ausdrückt“. Das Baby kann diese wertvollen Tropfen entweder direkt von der Brustwarze schlecken oder die Tropfen können auf einem Löffel gesammelt werden und können dem Baby vom Löffel gegeben werden. Davon profitieren Baby und Mama: Das Baby erhält trotz Schläfrigkeit Kolostrum und durch das gewinnen der Neugeborenenmilch von Hand wird auch die Brust der Mutter stimuliert.
Wichtig auch in Ausnahmesituationen
Da man inzwischen weiß, wie wichtig und wertvoll diese ersten Tropfen Muttermilch sind, versucht man Mütter zunehmend auch in Ausnahmesituationen zu unterstützen, ihrem Baby Kolostrum geben zu können. Zum Beispiel in der Betreuung von Frühgeborenen werden inzwischen auch die ersten Muttermilchmahlzeiten quasi als eine Art Medikament wertgeschätzt. Hier zählt tatsächlich jeder Tropfen und kann helfen, Frühchen vor Infektionen und gefährlichen Darmkomplikationen zu bewahren.
Aber auch wenn die Mutter einen Schwangerschaftsdiabetes hat und das Neugeborene deshalb nach der Geburt regelmäßige Blutzuckerkontrollen bekommt und einem sogenannten „Frühfütterungsschema“ gefolgt wird, ist es in einigen Kliniken inzwischen möglich, bereits vor der Geburt Kolostrum zu sammeln, damit das Baby im Falle einer notwendigen Zufütterung die Neugeborenenmilch seiner Mutter bekommt. Und selbst wenn eine Mutter sich bereits in der Schwangerschaft dazu entschließt, gar nicht stillen zu wollen und plant mit einem Medikament abzustillen, wird diesen Müttern, wenn sie dies wünschen, trotz des Abstillwunschs die Möglichkeit gegeben, ihren Babys eine Kolostrum-Mahlzeit zu geben. Diese kann dann wie eine Art „Schluckimpfung“ trotz Abstillens immerhin die positive Besiedlung des kindlichen Darms gewährleisten.
Fragen? Beratung tut in jedem Fall gut! Nicht nur in den letztgenannten Situationen macht es Sinn, sich von einer Stillberaterin ausführlich beraten zu lassen. Manche bieten – wie ich – hierzu vorbereitende Kurse oder auch ortsunabhängig Onlinekurse an. Manchmal ist aber auch ein persönliches Gespräch mit Stillberaterin oder Hebamme zu diesen Fragen eine große Hilfe. Gerade wenn es darum geht, dem eigenen Körper zu vertrauen, dass er bestens darauf vorbereitet ist, das Baby mit wertvollem Kolostrum zu versorgen.
*******
Hat dir dieser Artikel gefallen?
Weitere Inspirationen rund um Schwangerschaft, Geburt und die Reise als Mama
findest du im Print-Magazin.
*******
AUTORIN: CHRISTINA LAW-MCLEAN
Christina ist seit über 22 Jahren in der Stillberatung tätig, sowohl in der Klinik als auch in freier Beratung. Sie bloggt zum Thema Stillen, veröffentlicht regelmäßig Videos mit Stilltipps auf ihrem YouTube-Kanal und konzipiert Onlinekurse zur Stillvorbereitung und Stillproblemen.
www.entspannt-stillen.de