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Wir alle sind Menschen mit bestimmten Charakterzügen. Es gibt Dinge, die wir mögen, und welche, die wir ablehnen. Manchmal durchzieht unser Leben ein immer wiederkehrendes Muster. Es geschehen in unserem Leben viele Ereignisse und unser Reagieren darauf ist oft doch sehr ähnlich, wenn nicht sogar identisch. Doch woher kommt das? Man geht davon aus, dass jede Lebenserfahrung in einem Menschen behalten wird und in ihm wirken kann. All unsere Erfahrungen mit uns und unserer Umwelt schwingen als Hintergrund mit. Wir sind alles, was wir erlebt und erfahren haben. So ist die Schwangerschaft der Beginn unserer Entwicklung. Sie ist der Urgrund unseres Daseins.
Prä- und Perinatale Psychologie
Das Wissen über Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre wurde von Generation zu Generation weitergegeben und ist kulturell sehr unterschiedlich. Im deutschsprachigen Raum gelten die Psychoanalytiker Otto Rank und Gustav Hans Graber als zwei der ersten, die sich der Thematik der Geburt widmeten. Otto Rank nahm an, dass die Geburt erlebt wird und als erste Erfahrung des In-die-Welt-Kommens ein grundlegendes Muster für das weitere Erleben darstellt. Frank Lake, ein englischer Theologe und Psychiater, konnte zeigen, dass Schwangerschaftstraumen oder das Erleben im Mutterleib unter dem Geburtstrauma verborgen sein können. Es folgten einige weitere Forscher, die sich hiermit auseinandersetzten, und so haben sich die Prä- und Perinatale Psychologie entwickelt. Durch intensive interdisziplinäre Forschungsarbeit zwischen der Prä- und Perinatalen Psychologie und der Medizin wird immer deutlicher, dass Schwangerschaft, Geburt und die ersten Monate immens wichtig für spätere Entwicklungen sind. Zudem wurde gezeigt, dass die menschliche Entwicklung epigenetisch verläuft.
Wie zeigen sich die Prägungen in unserem Leben?
Vor allem intrauterine Erlebnisse und Geburtserlebnisse sind sehr prägend und können teilweise wieder erlebt werden. Zum Beispiel können allererste Trennungserlebnisse bei der Geburt in Kombination mit einer Reise, einer Scheidung, einem Autounfall oder Ähnlichem wieder hochkommen und sich in Kopfschmerzen, Schwindelgefühlen, Muskelspannungen, Atemnot, Herzklopfen, Kreislaufstörungen, Panik- und Angstanfällen, Licht- und Lärmempfindlichkeit, Essstörungen, Bauchschmerzen, Gefühlen von Ohnmacht, Allein- und Verlassensein, Hoffnungslosigkeit, Gefangen- und Ausgeliefertsein äußern.
Traumatische Erfahrungen werden gespeichert und können durch Reize, Assoziationen, die im Alltag auftreten, wieder hervorgerufen werden. Wir erleben dies in Form von Bildern, Erinnerungen und Gefühlen. Ebenso bleiben unerfüllte Bedürfnisse nicht einfach vergessen. Meistens ist dies unbewusst und in bestimmten Lebenssituationen werden wir daran erinnert. Sicherheit und das Bedürfnis, wir selbst sein zu dürfen, sind grundlegende menschliche Bedürfnisse und werden vor allem durch elterliche Liebe gestillt. Je mehr diese fehlt, versuchen wir in anderen Lebenszeiten, diese zu erhalten, möglicherweise vom Partner, von Freunden oder sogar von den eigenen Kindern. So kann es durch übertriebene Anpassung und Aufgeben der eigenen Bedürfnisse zum Gegenteil, der ständigen Suche nach Bestätigung und Sicherheit, kommen. Eine weitere Möglichkeit ist der ständige Versuch, durch gute Leistungen die früher vermisste Liebe und Anerkennung zu erhalten.
Bei einem schwierigen Schwangerschaftsverlauf kann es zu einer kürzeren Schwangerschaftsdauer, Geburtskomplikationen, niedrigem Geburtsgewicht, exzessivem Schreien oder Neigung zu Apathie, Verdauungsstörungen, Schlafstörungen, genereller Krankheitsneigung, hoher Angstbereitschaft und Beeinträchtigung der Gefühlsselbstregulation kommen. Seelische Probleme und Symptome wie Ängstlichkeit, Verstimmbarkeit oder eingeschränkte Belastbarkeit und auch psychosomatische Symptome können ihre Wurzeln in sehr frühen überfordernden Belastungen haben. Auch die Zeugung kann nach William Emerson und Karlton Terry unsere Grundenergie prägen. Unsere emotionale Grundhaltung wird davon beeinflusst, wie wir entstanden sind.
Durch verschiedene Therapien, zum Beispiel Körperpsychotherapie, ist es möglich, diese Probleme/Gefühle zu verändern. Durch die Arbeit mit dem Körper und dem Unterbewusstsein können Muster neu bearbeitet werden. So ist es möglich, dass man die eigene Schwangerschaft und Geburt noch einmal erleben kann und die Geschichte umschreibt. Danach kommt es zu einer Veränderung von Verhaltensmustern. Alte Muster werden nicht mehr benötigt und können abgelegt werden. Hierdurch kommt es zu einer Veränderung im eigenen, jetzigen Leben.
Beispiele und mögliche Lösungen
Es kann in bestimmten Lebenssituationen zu einer Aktivierung der Geburtserinnerungen und -erfahrungen kommen. Ist beispielsweise durch das „Fortschreiten“ im Geburtskanal ein Trauma entstanden, kann es später zur Aktivierung kommen, wenn es um Fortschritte, möglicherweise eine Beförderung, geht. Kommt es zu einem zu schnellen Geburtsvorgang, beispielsweise durch einen Kaiserschnitt oder eine Sturzgeburt, kann dies für das Kind traumatisch sein.
Bei Kaiserschnittgeburten kommt es zu einem psychischen Schock. Typische Charakteristika von Kaiserschnittgeburten sind ein anderes Raumgefühl und Schwierigkeiten beim Erkennen von Grenzen (auch die eigenen Grenzen). Diese gibt es natürlich auch bei anderen Menschen, sie sind aber weitaus häufiger bei Kindern mit Kaiserschnittgeburten. Trennungsängste im Kindesalter können verstärkt sein. Viele Erwachsene, die per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen sind, haben ein vermindertes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. „Ich kann das nicht allein“ ist ein häufiges Empfinden. Auch Angst und Schuldgefühle kommen häufig vor. Und je größer die Verletzung in der Zeit war, umso stärker ist der Wunsch nach Kontrolle.
In einer Therapie kann der Körper lernen, dass er auch selber vorankommen kann, wenn es beispielsweise ein „Steckenbleiben“ gab. Auch das nochmalige Durchleben der eigenen Geburt ohne fremde Hilfe führt Menschen, die mit einem Kaiserschnitt in die Welt geboren werden, zu einem neuen Gefühl von: „Ich schaffe das allein, ich kann das.“ Die Menschen haben danach ein ganz anderes Selbstwertgefühl und -vertrauen. Sie gehen gestärkt im Leben weiter und können auftretende Probleme besser verarbeiten.
Eine tiefe Zuversichtlichkeit und Lebensbejahung kann eine Wurzel in einem Gewollt- und Bestätigtsein vor der Geburt haben, wie umgekehrt eine Ablehnung der Welt und eine Rückzugstendenz eine Wurzel in einem Ungewolltsein oder einer Unbezogenheit vor der Geburt haben kann. Die Beobachtungen aus der Psychotherapie finden ihre Ergänzungen in der Stressforschung und der neurobiologischen Entwicklungsforschung, die feststellt, dass das vorgeburtliche Milieu die synaptischen Verschaltungen im Hirn mitprägt. Wir lernen vor der Geburt, was wir von der Welt zu erwarten haben.
Das bedeutet, dass wir in der Schwangerschaft viel für unsere Kinder tun können. Selbst wenn es zu Stress, Ängsten, Streitigkeiten oder anderen Problemen während dieser Zeit kommt, kann dies noch in der Schwangerschaft oder auch danach verarbeitet werden, indem man in Kontakt mit dem Baby geht und es teilhaben lässt an dem Geschehen. Sie können mit den Emotionen der Mutter oder dem Vater viel leichter umgehen, wenn sie wissen, warum dies geschieht. Warum bestimmte Hormone zu ihnen durchdringen. Es ist nicht das Wichtigste, eine perfekte Schwangerschaftszeit zu haben, sondern eher, wie damit umgegangen wird. Und hier ist die eigene Achtsamkeit von großer Bedeutung. Wenn wir wissen, wie es uns geht, und in Kontakt mit dem Baby sind, können die Babys meist mehr aushalten, als wir denken.
Eine erneute Schwangerschaft nach einer Fehlgeburt oder verstorbenem Kind kann bei der Mutter Ängste auslösen. Das Baby erlebt diese Angst über die Stresshormone im mütterlichen Kreislauf, ihre Unruhe und den Herzschlag. Hier kann die Schwangere dem Baby erzählen, was in ihr vorgeht, sodass dem Baby bewusst ist, warum die Mutter Angst hat. So lernt das Baby von Anfang an, dass Angst ein natürliches Gefühl ist, und kann damit umgehen.
Der Verlust eines Zwillingsgeschwisterchens kann deutliche Spuren im Fühlen, Denken und Handeln hinterlassen. Es ist möglich, dass der allein gebliebene Zwilling eine Leere oder ein Loch in der Seele verspürt, welches nicht auszufüllen ist. Das Gefühl der Einsamkeit wird sehr häufig tief in sich getragen, ebenso wie Schuldgefühle. Diese Personen haben häufig das Gefühl, für andere verantwortlich sein zu müssen. Auch das Gefühl, sonderbar zu sein, kennen viele. Beziehungen sind ein Spiegel des früher Erlebten „Wir-Gefühls“ und oftmals mit Angst verbunden. Für viele übrig gebliebene Zwillinge ist es eine enorm positive Veränderung ihres Lebens, wenn sie erfahren, dass sie mal zu zweit waren. Durch die Integration des Zwillings bei einer Therapie ist es möglich, diese Leere zu füllen und zu lernen, dass man weder alleine noch schuldig ist. Für übrig gebliebene Zwillinge ist es wichtig, diesen anderen Teil einerseits zu integrieren und ihn andererseits loszulassen.
Die Geburtsmedizin und die Neonatologie sind heute technisch enorm entwickelt und stellen eine früher ungekannte Sicherheit der Geburt her. Die Kehrseite besteht darin, dass heute Geburten und auch schon die vorgeburtliche Entwicklung durch eine Vielzahl von Interventionen belastet werden, die zu wenig auf ihre psychologischen Folgewirkungen hin reflektiert werden. Die Geburt ist eine ganz tiefe Erfahrung von Sichanstrengen, seinen Weg finden, Sich-durch-etwas-Hindurcharbeiten und auch von Sichbefreien und Triumph. Diese Erfahrung ist so etwas wie ein Prägemuster für das Erleben von späteren Veränderungssituationen im Leben.
Schwangerschaft und Geburt
Die Zeit der Schwangerschaft und der Geburt ist also die erste Zeit, in der wir schon einen Einfluss auf die Babys haben. Es ist ein Zustand des Daseindürfens, von Wachsen und Geborgenheit. Es ist auch die stärkste Kraftquelle – eine Urerfahrung – für Liebe, Glück, Hoffnung und eine positive Lebenseinstellung, die uns im weiteren Leben von innen nährt.
Es ist in den neun Monaten fast unmöglich, kein negatives Gefühl, Erlebnis oder Stress zu haben. Nicht nur die Schwangere prägt das Ungeborene, auch der Vater, die Geschwister, die Familie und das weitere Umfeld und die allgemeine Lebenssituation. So ist es also von großer Bedeutung, nicht jeden Stress fernzuhalten. Denn ein gewisser Grad von Stress fördert sogar den späteren Umgang mit diesem. Es ist viel wichtiger in der Zeit als Schwangere schon jetzt mitfühlend mit sich und dem Ungeborenen umzugehen. Hat das Ungeborene teil an den Gedanken und Gefühlen, kann dies eine sehr positive Auswirkung auf die Beziehung haben. Auch wenn schwierige Situationen in der Schwangerschaft oder der Geburt vorkommen, muss dies nicht gleich traumatisch sein. Ausschlaggebend ist eher der Umgang damit. Verliert eine Mutter beispielsweise einen Zwilling, ist es von großer Bedeutung – wenn die Mutter es weiß –, all die Gefühle, die aufkommen, auch wahrzunehmen und zuzulassen und dem anderen Zwilling zu erklären, was passiert ist. Ganz egal, ob das Wissen schon während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder erst später vorhanden ist. Nach einer schwierigen Geburt kann eine empathische Familie das Baby auffangen und das Trauma wird verarbeitet.
So können wir durch eine bewusste Schwangerschaft schon Einfluss nehmen auf die Prägung unserer Kinder. Und selbst, wenn etwas nicht wie gewünscht oder geplant verläuft, ist der Umgang danach entscheidend.
Auch wir Erwachsene können durch dieses Wissen sehr viel Heilung erfahren, indem wir uns auf eine Reise in die eigene Schwangerschaft und Geburt begeben.
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Autorin: Anne Henle
Anne ist Mama von zwei Kindern und arbeitet als Osteopathin mit dem Schwerpunkt Schwangerschaft, Geburt und Kinder. Zusätzlich bildet sie sich weiter im Bereich der prä- und perinatalen Psychologie. Anne bietet virtuelle Beratungen, Schwangerschaftskurse und Kurse, in denen die eigene Geburt als Quelle von Heilung möglich wird, an. Weitere Informationen findest du hier:
www.facebook.com/vitamotio & www.vitamotio.de