Wenn man in der Nähe einer schwangeren Frau ist, kann man häufig eine ganz bestimmte Magie spüren. Ich würde sie als Lebensenergie beschreiben. Das neue Leben, das entsteht und jeden Tag ein wenig wächst, lebt verbunden und verwurzelt im Bauch seiner Mutter. Die Mutter nährt ihr Baby mit allem, was sie hat und das Baby wiederum lässt seine Mutter, allein durch seine Anwesenheit, auf mehreren Ebenen wachsen. Diese symbiotische Beziehung und die neuen Impulse, die eine Schwangere in Momenten der Ruhe gut spüren kann, sind lebensverändernd.
Unser Leben ist geprägt durch verschiedene Phasen und durch jeden neuen Lebensabschnitt entstehen neue Herausforderungen. So wachsen und reifen wir. Ich denke, dass die Schwangerschaft und Ankunft eines Babys im Leben einer Frau eine der bedeutendsten Lebensveränderung darstellt, da wir diese besondere Lebensenergie in uns tragen und uns mit ihr verbinden können. Schon der Psychoanalytiker Erik H. Erikson, der die Entwicklung eines jeden Menschen in acht Phasen eingeteilt hat, beschrieb jede Lebensphase als eine Ich-Krise im Spannungsfeld der eigenen Bedürfnisse und der sich im Laufe eines Lebens stetig verändernden sozialen Anforderungen. Auch die moderneren Strömungen der Psychologie weisen immer wieder auf kritische Lebensereignisse hin, die im Laufe jeden Lebens entstehen und den Menschen vor neue Aufgaben stellen. Wenn jemand eine solche Phase nur schwer bewältigen kann, kommt es schneller zu Überforderung und Hilflosigkeit.
In unserer heutigen Zeit, in der sich das gemeinsame Leben von einer großen Familiengemeinschaft oft auf ein anonymes Leben in der Kernfamilie verlagert hat, versuchen viele Menschen, ihre Krisen alleine zu bewältigen oder aber sie zu verdrängen, indem sie sich ablenken. Es passiert soviel Neues um uns herum, dass diese Verdrängung teilweise recht lange aufrecht erhalten wird. Die Folge sind Verwirrtheit, Unzufriedenheit und Einsamkeit. Es bleibt der Wunsch nach Selbsterkenntnis, innerer Ruhe und Verbundenheit. Durch eine Schwangerschaft beginnt nicht nur ein innerer Prozess der Veränderung, sie ist oft auch eine Phase der natürlichen Entschleunigung, wodurch unsere Wünsche lauter werden und gesehen werden wollen. Diese Sehnsucht bringt ein großes Potential für Heilung, Erneuerung und Reifung mit sich. Frauen wünschen sich dann häufig Kontakt zu anderen Frauen und einem anregenden Austausch, um ihre innere Welt neu zu sortieren. Genau dort hole ich die Frauen in meinem Kurs ab. Bei ruhiger, intimer Atmosphäre stoppen wir den Alltag für einen kurzen Moment und begeben uns auf eine innere Reise zu gemeinsamen und individuellen Themen. Ich greife dabei in meine therapeutische Schatzkiste, um das eigene Bewusstsein auf die Gefühle und die dahinter versteckten Bedürfnisse zu richten.
Oftmals ist die Angst vor der Geburt und die damit verbundene Ungewissheit ein großes Thema für schwangere Frauen. Das Fatale dabei ist, wenn sich die komplette Aufmerksamkeit auf sie richtet und somit die Welt durch eine Angstbrille betrachtet wird und dadurch eine eigene Logik bekommt. Mein Ziel ist es den Fokus, der bisher auf die Angst gerichtet war, zu verändern. Wenn der individuelle Charakter dieser Emotion und damit die Bedürfnisse, Gefühle und Lebensthemen, die hinter ihr verborgen sind, aufgedeckt werden, entsteht eine neue Betrachtungsweise. Dieses Umdenken schafft wiederum einen Raum für neue Lösungen.
Auch der Geburtsschmerz ist ein Thema des Kurses. Jede Frau, die das erste Mal Mutter wird, macht sich irgendwann Gedanken über die Schmerzen unter der Geburt. Mit Schmerzen verbinden die meisten Menschen negative Erlebnisse, körperliche Ohnmacht oder Einschränkung.In vielen Vorbereitungskursen werden Entspannungstechniken geübt, die auf der physischen Ebene den Schmerz ein wenig lindern können. Methoden, wie zum Beispiel das Hypnobirthing, gehen noch einen Schritt weiter. Die Kombination aus mentalem Training, einer positiven Einstellung zum Thema Geburt und die Internalisierung einer Tiefenentspannung kann Frauen bei der Schmerzbewältigung sehr behilflich sein. Ich betrachte das Thema Geburtsschmerz trotzdem noch ein wenig anders, auch wenn ich alle anderen Entspannungstechniken hilfreich finde und als Ergänzung sehr schätze. Ganz im Sinne des französischen Arztes und Geburtshelfer Dr. Michel Odent denke ich, dass die Hemmung von neokortikalen Aktivitäten im Gehirn ein entscheidender Faktor für eine leichtere Geburt ist. Somit ist das Denken und alles was dieses stimuliert ein hemmender und verlangsamender Geburtsfaktor. Wenn dementsprechend eine Frau den Anspruch hat, richtig zu atmen oder die perfekte Position einzunehmen, ist sie ganz schnell wieder im Denken. Ich sehe den Schmerz als eine Art Helfer aus dem Denken herauszukommen oder als eigener innerer Psychotherapeut. In meinem Kurs verknüpfe ich nämlich den körperlichen Schmerz mit dem gesamten psychischen und seelischen Schmerz, der bisher erlebt wurde. Um Trauer, Wut und Schmerz zu verarbeiten, ist es wichtig diese Gefühle in ihrer Intensität zu akzeptieren. Eine Frau wird während der Wehen durch ihren körperlichen Schmerz quasi gezwungen alles zu spüren. Sie kann es nicht verdrängen, aber sie kann es zulassen, sich somit ihrer Lebendigkeit bewusst werden, öffnen und dadurch Heilung erfahren. Durch den Schmerz kommen Frauen häufig in den Zustand einer Geburtstrance. Viele Frauen berichten danach von vergessen geglaubten Bildern und Erinnerungen aus der Vergangenheit. Sie stoßen auf außergewöhnliche Gedanken und bilden Mantren, die sie durch den Geburtsprozess leiten. Durch diese Trance, die manche auch als ein Schweben zwischen den Welten beschreiben, wird die Geburt zum einen zu einem spirituellen Erlebnis. Zum anderen führt sie durch das völlige bei sich selbst Ankommen und der Befreiung von allen gesellschaftlichen Normen zu einer Erneuerung tiefsitzender psychischer Strukturen.
Die Ungewissheit über die Magie der Geburt wird bleiben, letztlich kann niemand eine Frau auf dieses transformierende Erlebnis vorbereiten. Es wird in der Geburtshilfe viel zu oft von Vorbereitung und Hilfe gesprochen, so dass ein ganz falsches Bild von Hilfe entsteht. Ich würde gerne ein ganz neues Wort kreiren, welches beschreibt, wie ich die Frauen in meinem Kurs „vorbereite“. Mir ist es wichtig, dass jede Frau mit einem Gefühl von Fülle, Selbstbestimmung und dem Bewusstsein über ihren individuellen Charakter, ihrer Lebensgeschichte und ihrem Temperament nach Hause geht. Anstelle von Angst und Abwehr werden Neugierde und Zuversicht den Platz einnehmen und die Frauen somit frei machen, um ihren eigenen Weg zu gehen. Diesen Weg geht jede alleine. Er gehört zu eurem Leben. Ein Kind unter dem Herzen zu tragen, zu gebären und den ersten Atemzug zu erleben, ist und bleibt das Wunder und das Natürlichste des Lebens.
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Autorin: Chiara Rieß
Chiara arbeitet mit schwangeren Frauen und jungen Müttern. Sie hat Psychologie und Erziehungswissenschaften studiert und ist gerade dabei, die Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichentherapeutin zu machen. Außerdem ist sie systemische Beraterin/Therapeutin, Geburtsbegleiterin und EMDR-Coach.
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