Die meisten Eltern kennen es: Das Baby ist gefüttert, gewickelt, gekuschelt und sie stehen ratlos vor dem unglücklichen, weinenden Häufchen Elend. Das Weinen eines Babys geht durch Mark und Bein, kaum ein Mensch bleibt davon unberührt – ob es das eigene ist oder nicht. Die Reaktionen sind vielfältig und reichen von Mitleid, Trauer, Hilflosigkeit, Überforderung bis hin zu Unverständnis und Wut. Dieses durchdringende Geräusch zehrt an den Nerven aller daran Beteiligten und nur allzu verständlich ist der Wunsch, es möglichst schnell abzustellen. Einerseits, um schnell wieder zur eigenen Ruhe zu finden, vielmehr aber natürlich, um die Bedürfnisse, die hinter dem Schreien stecken, möglichst prompt und angemessen zu erfüllen. Das Umfeld in Form von Nachbarin oder Schwiegermutter, Kinderarzt oder Babykursleiterin hat dann auch schnell die passende Lösung parat: „Hunger!“ „Müde!“ „Bauchweh!“ „Lass es schreien, es tanzt dir ja jetzt schon auf der Nase herum. Und außerdem kräftigt Schreien die Lungen!“. Und überhaupt, bei den anderen Mamas sieht das alles so einfach aus und die Babys sind immer so glücklich und zufrieden, schlafen selig oder glucksen zufrieden. Hand auf’s Herz: Keine Mama möchte Schuld sein, dass es ihrem Baby schlecht geht, weil sie irgendetwas „falsch“ gemacht oder übersehen hat. Mit diesem Artikel möchte ich zu einer Innenschau einladen.
Was macht das Weinen mit dir?
Was macht das Weinen deines Babys mit dir?
Welche Gefühle steigen in dir auf ?
Wie drücken sich diese in deinem Körper, etwa im Bauch, in den Beinen oder deiner Atmung, aus?
Welche Gedanken gehen dir durch den Kopf ?
Und was sagt dein Herz dazu?
Dafür braucht es einen Moment der Ruhe und auch der Verlangsamung, der Entschleunigung. Du kannst dir diese Fragen in der konkreten Situation stellen oder – deutlich einfacher – indem du dir in einem entspannten Moment eine solche möglichst konkret vor Augen führst und gedanklich mit deinem inneren Beobachter dort hineingehst. Indem du wahrnimmst, was in deinem Körper, in deinem Herzen und dem Kopf passiert, bekommst du ein sehr zuverlässiges Frühwarnsystem, das dir hilft, in der jeweiligen Situation angemessen zu reagieren, statt ratlos in Panik zu verfallen.
Stockt dir der Atem, so kannst du als erste Maßnahme wieder tief durchatmen. Werden deine Beine vor Aufregung starr, kannst du – auch mit Baby auf dem Arm – langsam wippend durch die Wohnung laufen und deine Anspannung über die Füße aus dem Körper raus in den Boden leiten. Kommen dir Gedanken wie: „Kann es denn nicht endlich mal still sein, ich hab doch alles getan“, so kannst du deinen inneren Verkehrspolizisten sein Stoppschild heben lassen, innerlich einen Schritt zurückgehen hin zu: Was ist denn jetzt konkret überhaupt zu tun? Wenn du merkst, dass dein Herz zerreißt, weil es deinem Baby so schlecht geht, kannst du aus der mitleidenden auf die mitfühlende Ebene gehen, indem du leise oder laut sagst: „ Ja, das Leben ist manchmal wirklich hart. Ich stehe dir bei und zusammen kommen wir da durch!“
Ruhe bewahren
Indem du diesen inneren Schritt zurückgehst und erst einmal inne hältst, kannst du dich ganz auf dein Baby einlassen und wenn du es schaffst, die Ruhe auch in stürmischen Momenten zu bewahren, so bekommst du von ihm eine Rückmeldung. Vielleicht ändert sich das Weinen oder hört sogar ganz auf, vielleicht übermittelt es dir gedanklich den entscheidenden Impuls darüber, was in der jeweiligen Situation zu tun ist. Eventuell wirst du an einen Moment zurückerinnert, in dem du genau dieses Weinen schon einmal gehört hast. Oder du bekommst eine Idee, die Situation zu verändern, indem du sie verlässt und deinem Baby an einem anderen, einem ruhigeren Ort Ruhe, Halt, Trost und Zuversicht spendest.
Das Erleben der Babys
Lange wurde angenommen, dass unsere Babys keine Empfindungen haben, doch die Säuglings- und Pränatalforschung hat mittlerweile eindeutige Erkenntnisse geliefert, dass das Gegenteil der Fall ist. Schon in einem sehr frühen Stadium lassen sich bereits im Mutterleib Empfindungen des Säuglings nachweisen, etwa indem es auf Musik oder Aktivität und Ruhe der Mutter reagiert. Wir wissen heute, dass die Zeit der Schwangerschaft eine unglaublich prägende, wenn nicht gar die prägendste Zeit, im Leben eines Menschen ist. Und dass die Geburt als Übergang in diese Welt ein einschneidendes Erlebnis ist, nicht nur für das Baby, sondern auch für die Mutter und alle daran Beteiligten. Wir wissen, dass unsere Babys höchst sensible und kompetente Lebewesen sind, die ihre Bedürfnisse genau kennen und auch zum Ausdruck bringen und die ein großes Bedürfnis nach Sicherheit und einer zuverlässigen Bindungsperson haben. Und die sich in dieser neuen Welt erst einmal zurecht zu finden wollen. Genau, wie die frischgebackenen Eltern.
Entschleunigung, Mitgefühl und Selbstfürsorge
Ich möchte dich dazu einladen, das Weinen als Ausdrucksform und Kommunikationsmittel des Babys zu verstehen und dich selbst und dein Baby genau zu beobachten, mit offenem ehrlichen Interesse und Forschergeist – um damit zu einer für alle zufriedenstellenden Lösung zu gelangen. Ich möchte dich einladen, Mitgefühl zu etablieren, um daraus Fürsorge zu entwickeln. Zuerst für dich selbst, damit du sie dann auch deinem Baby zukommen lassen kannst. Und ich möchte dich einladen, die Verlangsamung und Entschleunigung in dein Leben einkehren zu lassen, um die Gelegenheit zu bekommen, Vertrauen zu entwickeln. Vertrauen in dein Baby, dass es dir auf seine Art mitteilt, was es braucht. Aber auch Vertrauen in dich selbst, dass du es als Elternteil richtig und gut machst – statt perfekt. Dass du Fehler machen darfst und aus diesen lernen. Dass du dir Hilfe holen kannst, wenn die Situation dich zu überfordern droht. Durch Hilfe im Haushalt oder Unterstützung im Umgang mit dem Kind durch liebevolle Begleiter, die dir zehn ungestörte Minuten unter der Dusche ermöglichen oder ein erholsames Tagschläfchen. Dass du professionelle Hilfe in Anspruch nehmen kannst, wenn du absolut ratlos bist und merkst, dass dir die Ideen ausgehen und du alleine nicht mehr weiter kommst. Beim Kinderarzt, der Hebamme, in einer Schreibabyberatung. Oder in einer Gruppe von Gleichgesinnten. Ich möchte dich ermutigen, Vertrauen in dich zu entwickeln, dass du für dein Baby der Leuchtturm und sichere Hafen bist, der ihm Orientierung ermöglicht, wenn es als Schiff auf stürmischer See treibt. Der bei Bedarf die Seenotretter rausschickt und über Funk steten Kontakt hält. Der aber nicht das Wetter ändern kann. Denn auch kleine Menschen haben große Gefühle.
Zum Weiterlesen: Woran Babys sich erinnern: Über die Anfänge unseres Bewusstseins im Mutterleib (Chamberlain), Warum Babys weinen – Die Gefühle von Kleinkindern (Solter), Der Seelenraum des Ungeborenen – Pränatale Psychologie und Therapie (Janus)
Autorin: Isabel Falconer