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„Uns muss bewusst werden, dass wir jetzt für die Zukunft leben.“(Lunde,Galore 33/2019)
Norwegen. August 2018. Wir erkunden seit einer Woche dieses wunderschöne und von der Natur so außerordentlich bedachte Land, mit seinen kilometerlangen Fjorden, gigantischen Bergen und grauen Felsen, die aus dem Wasser ragen als wären es Buckelwalrücken. Es ist ein frischer Morgen im Hafen von Oslo. Meine Familie und unsere Freunde, mit denen wir von hier ab zusammen nach Schweden fahren, bringen Wärme in unser motorisiertes Zuhause auf Zeit. Es ist mein Geburtstag. Unter meinen Geschenken ein Buch – eine sichere Sache, um mir eine Freude zu machen.
„Die Geschichte der Bienen“ von der Norwegerin Maja Lunde, veröffentlicht 2015, hat sich der relevanten Herausforderungen unserer Zeit angenommen und ein Buch geschrieben, dass man nicht mehr aufhören möchte zu lesen. Es dringt tief in die Gedanken ein, in die Gedanken darüber, ob wir wirklich wollen, dass unsere Welt, die Welt unserer Kinder und Enkel, sich so entwickelt, wie Lunde es skizziert.
Unverpackt, minimalistisch, „sharing is caring“. Nur einige Beispiele für die großen Themen, die aus der aktuellen Medienlandschaft nicht mehr wegzudenken sind. In den sozialen Medien, den Nachrichten, in der Zeitung oder auf Klimagipfeln wird die Zukunft unseres Planeten derzeit omnipräsent diskutiert. Der Namen Greta Thunberg ist in aller Munde. Das Timing für Lundes Roman könnte nicht besser sein.
Ausgangspunkt ist die Beziehung zwischen Mensch und Biene sowie die Tatsache, dass Generationen trotz oder gerade wegen ihrer zeitlichen Entfernung zueinander, unauflöslich miteinander verbunden sind. Im Vordergrund stehen der sogenannte Colony Collapse Disorder, allgemein bekannt als Bienensterben, und die Entwicklung dahin, geschildert anhand von drei Familiengeschichten.
In Episoden wird aus dem Leben der Familien erzählt, die sich zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten den ganz speziellen Erschwernissen ihrer Generation stellen müssen: William, Familienvater im England des 19. Jahrhunderts, der sich später als Pionier auf dem Gebiet der Bienenzucht herausstellen wird. Tao, eine junge Frau, die mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn im Jahr 2098 in einer chinesischen Provinz lebt. Sie arbeiten als Handbestäuber, denn die Honigbiene ist bereits seit über 100 Jahren ausgestorben. Schließlich lernen wir George kennen, einen durchschnittlichen Amerikaner auf dem Lande, der sich 2007 als Imker verdingt, und der bereits mit den ersten Herausforderungen des Bienensterbens konfrontiert wird.
Die Geschichten werden abwechselnd, jeweils aus der Perspektive der Hauptfiguren erzählt. Auf diese Weise wird selbst zu den zeitlich in weiter Ferne liegenden Figuren ein fast schon intimer Einblick gewährt, der Emotionen und Spannungen unmittelbar erfahrbar macht und nachempfinden lässt, wenn auch in unterschiedlicher Intensität.
Gleich zu Beginn erleben wir, welche Konsequenzen das Verschwinden der Biene, natürliche Bestäuberin der Blüten und verantwortlich für ertragreiche Ernten, in China im Jahr 2098 nach sich zieht. Tao und ihr Mann bestäuben in einer militärisch überwachten Struktur – da überlebenssichernd – Obstbäume per Hand, zusammen mit tausend anderen. Schlechter Lohn, sklavenähnliche Bedingungen und strengste Überwachung bestimmen ihren Alltag. Einzig Sohn Wei-Wen und ihr Mann erscheinen ihr als Hoffnungsschimmer, in einem von einer Fließband-Mentalität geprägten Arbeitsalltag.
William dagegen, der ein Saatgut-Geschäft betreibt, ist gefangen zwischen seinen Kindern, seinem Laden, der Notwendigkeit für den Unterhalt sorgen zu müssen und seinen wissenschaftlichen Ansprüchen als Forscher, der durch Bettlägerigkeit zum Nichtstun verdammt ist. Im Verlauf der Erzählung kann er sich aus seinen Zwängen befreien und findet einen Weg zurück in ein selbstbewusstes Leben mit einem Ziel vor Augen. Er entwickelt einen Prototyp für einen Bienenstock, der die Imkerei revolutionieren wird.
George ist ein erfahrener Bienenzüchter, und ein Nachfahre von William. Er hofft darauf, dass sein Sohn Tom den Hof eines Tages weiterführen wird. Dieser jedoch stellt sich gegen die Wünsche seines Vaters und möchte Journalismus studieren. Erst das eintretende Bienensterben führt die beiden auf einen gemeinsamen Pfad.
Auch wenn die entferntere Zukunft, repräsentiert durch Tao und ihr Leben, zunächst düster und aussichtslos erscheint, kann ein tragisches Ereignis die Dinge für die Erde zum Guten wenden. Taos Sohn Wei-Wen wird durch einen Bienenstich lebensgefährlich verletzt, in einer Zeit, in der die Bienen doch als verloren galten. An dieser Stelle verbinden sich die drei Geschichten zu einem Ganzen. Der von William entwickelte Bienenstock, der „zur Honigproduktion und zum Studium der Bienen“ (Lunde, S.504) diente, wird von Tom, Georges Sohn, schließlich in seinem Buch „Der blinde Imker“ so erweitert, dass es den Bienen ein sicheres Zuhause bieten kann und der schließlich in China, nach der Rückkehr der Bienen, wieder Verwendung findet.
Ein Schwarm-Kokon, der geschützt vor den Menschen in einem unbeobachteten Waldstück in Taos Bezirk, wachsen konnte, öffnet sich und erlaubt Tao und den Menschen einen hoffnungsvollen Blick in eine nicht mehr ungewisse Zukunft:
„So stand ich einfach nur da. Versuchte, jeder einzelnen Biene mit dem Blick zu folgen, ihre Reise zu beobachten, zum Bienenenstock und wieder hinaus zu den Blüten, von einer Blüte zur nächsten und wieder zurück, Aber […] es waren zu viele […] Also nahm ich lieber das Ganze in den Blick, den Bienenstock und all das Leben, das ihn umgab, all das Leben, das er beschützte.“ (Lunde, S.504)
„Die Geschichte der Bienen” ist die Geschichte einer Menschheit, die nachlässig mit ihrer Umgebung, mit der Umwelt umgeht. Der Roman reflektiert eine verheißungsvolle Vergangenheit, projiziert eine beängstigende Gegenwart und wagt einen Blick in die nicht ganz so ferne Zukunft. Er porträtiert beispielhaft wie unzertrennlich die Menschen über Jahrhunderte hinweg, zusammengehören. Entscheidungen auf allen Ebenen, ob auf der Weltbühne der Politik oder unserem ganz persönlichen Alltags-Theater, beeinflussen unsere Zukunft und die aller kommenden Generationen – in die eine oder andere Richtung.
Mit reduzierter, aber fokussierter Sprache zeichnet der Roman ein Szenario, das bei aller Fiktionalität einen dokumentarischen Realismus entfaltet. Insbesondere Informationen und Fakten zu umweltpolitischen und naturwissenschaftlichen Themen, die Lunde immer wieder mit einfließen lässt, unterstützen diesen Eindruck. Gefährdet durch die Globalisierung ist das Schicksal der Bienen unumstößlich mit dem Heute und Morgen der Menschheit verbunden. Die Bedrohung des natürlichen Perpetuum Mobiles, der unendlichen Reise zwischen Biene und Blüte, und dessen Konsequenzen bringt Lundes Erzählbogen auf den Punkt, womit ihr Roman Aufklärungscharakter trägt. Behutsam und ohne den Zeigefinger zu heben, nähert sich die Autorin der Problematik und wirft Fragen auf, die den/die Leser_in nachhaltig beschäftigen und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten führen.
Lunde erzielt damit einen erfreulichen Erfolg. Allein in Deutschland wurden bisher nahezu eine halbe Million Exemplare verkauft und in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Ein Indikator für die gewachsene Offenheit und Bereitschaft der Menschen, sich aktiv mit notwendigen Veränderungen für eine Zukunft zu beschäftigen, in der das natürliche Gleichgewicht weniger stark durch menschliche Einflüsse bedroht ist.
Wenige Wochen nach unseren Ferien, habe ich das Buch zu Ende gelesen. Es gibt Bücher, die lassen einen nicht in Ruhe, obwohl sie lange ausgelesen sind. Bücher, die mir sagen, tu was, jetzt, verändere etwas, sei die Veränderung, wenn du auch in vielen Jahren noch über die Buckelwalrücken in den Fjord raus schwimmen möchtest. Bücher, die einen so nachhaltig beschäftigen, von denen man glaubt, dass es gut wäre, wenn alle sie lesen würden, dass man in die Welt raus schreien möchte: LEST DIESES BUCH. ES IST WICHTIG. ES HAT WAS ZU SAGEN. So ein Buch hat Maja Lunde geschrieben.
Also: LEST DIESES BUCH.
Mittlerweile ist der Roman „Die Geschichte des Wassers“ erschienen. Lunde legt damit den zweiten von vier Erzählungen vor, die sich mit der Klima-Thematik beschäftigen. Teil drei erscheint im Herbst 2019.
Wer noch mehr über die literarische Verarbeitung des Klimawandels erfahren möchte, kann sich hier informieren: Der Held und das Wetter.: https://www.goethe.de/de/kul/ges/20368911.html
Geschrieben von: Kitty Hauer
Kitty ist Mama, Büchernärrin, Magister Germanistin und PR Mensch in einem regionalen Unternehmen.
Mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebt sie kulturverliebt und möglichst nachhaltig am Meer. Sie liebt Zugreisen, Skandinavien und Flohmärkte. Mit ihren Artikeln möchte sie die Fahne für unsere Erde hochhalten, ohne den Zeigefinger zu heben.