Titelbild: Unsplash / Annie Spratt
Es ist ein unscheinbarer Donnerstag Abend, aber vor dem kleinen Kino am Rostocker Stadthafen stehen unerwartet viele Menschen in der Schlange für den Kartenverkauf. Sie alle sind gekommen, um den polarisierenden Dokumentarfilm „Die Elternschule“ zu sehen. Das Publikum ist überwiegend weiblich: Darunter Pädagoginnen, Sozialarbeiterinnen und junge Mütter. Mit gemischten Gefühlen stelle ich mich zu meiner Freundin in die Schlange und schnell wird klar: Die Vorstellung ist ausverkauft. Wer keine Karte hat, hat Pech.
Ich bin überrascht. Nicht unbedingt darüber, dass die vom Gesundheitsamt organisierte Ausstrahlung so starken Zulauf hat, sondern vielmehr über die augenscheinlich unbekümmerte Stimmung im Kinosaal. Ich hingegen bin angespannt und nervös. Der Trailer des Films und einige der Rezensionen haben mich sehr berührt. Insbesondere eine von epd Film verfasste Kritik geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie beginnt mit den Worten: „Diese Kinder sind die Pest …“
Auch andere Kommentatoren scheinen geradezu erleichtert darüber, dass es die guten alten Erziehungsmethoden doch noch gibt und das die Elternschule uns diese mit samt ihrer Wirksamkeit wieder ins Gedächtnis ruft.
Zu ihnen gehört auch die Frau an der Kinokasse, die pünktlich 19 Uhr vor das Publikum tritt und in der Ankündigung des Films ihr Unverständnis für das Unverständnis und die Kritik am Film ausdrückt. Und trotz unserer scheinbar kontroversen Standpunkte und ihrer hart-aber-herzlich Ausstrahlung, ist mir die Frau Mitte fünfzig sympathisch. „Aber bilden Sie sich bitte ihr eigenes Urteil.“ sagt sie verschmitzt.
Ein Urteil, was ich mir sehr gern auch über den direkten Austausch mit Herrn Dietmar Langer, dem Pyschologen aus dem Film, gebildet hätte. Aber leider musste er seine Kinotour aus gesundheitlichen Gründen absagen. Die Kinomitarbeiterin deutet an, dass dafür auch die heftige und aggressive Kritik an seinem Film verantwortlich ist.
Große Leinwand, großes Leid
Als der Film beginnt, dauert es nur wenige Minuten bis bei einigen Kinobesucherinnen die ersten Tränen kullern. Auf der Leinwand begegnen uns Eltern, die längst an ihrer Belastungsgrenze angekommen und einem immensen Leidensdruck ausgesetzt sind. Sie suchen Hilfe in der Gelsenkirchener Klinik für psychosomatische Pädiatrie. Für diese Familien ist der Aufenthalt in der Klinik der letzte Strohhalm. Eine Mutter spricht sogar davon, ihre Tochter ins Heim zu geben, sollte sich nichts ändern. Sie wirkt entschlossen. Viele der anderen Mütter wirken erschöpft. Hilflos. Aber auch erleichtert und froh darüber, die Verantwortung nun nicht mehr allein tragen zu müssen. Dietmar Langer verspricht keine Wunder aber er versichert den verzweifelten Eltern, mithilfe des stationären Behandlungsprogramms alles Erdenkliche dafür zu tun, um ihnen und ihren Kindern zu helfen.
Hilfe, die mir das Herz bricht.
Immer wieder sehen wir Sequenzen dieser Beratungsgespräche, unterbrochen durch Aufnahmen von Kindern, die durch ihr nicht „normgerechtes“ Verhalten auffallen und damit die Aussagen der Eltern bestätigen. Es wirkt, als hätten die Filmemacher die Szenen von schreienden, wütenden und rebellierenden Kindern gezielt platziert, um die Dringlichkeit aller folgenden Interventionen hervorzuheben und zu rechtfertigen. Einige Menschen sehen hier die anfangs zitierte Pest. Ich sehe bindungsgestörte Kinder, die nach Liebe und Geborgenheit schreien. Und in mir wächst der Drang, den Kinosaal zu verlassen. Beim bloßen Zusehen laufen mir (als Mutter von drei Kindern) die Tränen und ich kann erahnen, in welcher seelischen Not sich die Eltern dieser Kinder befinden müssen, um alles kommende über sich und ihre Schützlinge ergehen zu lassen.
Und dennoch: So viel Leid auf einer so großen Leinwand – das fühlt sich falsch an. Das Publikum wird Zeuge von verzweifelten Kindern, die gegen ihren Willen von ihren Eltern getrennt werden. Die ihre Nahrung verweigern oder erbrechen. Die noch nicht einmal zwei Jahre alt sind und allein in einem Zimmer, im Gitterbett durchschlafen sollen, obwohl sie Zeit ihres Leben immer geborgen und problemlos neben ihrer Mutter schliefen – und die eigentlich „nur“ wegen der Behandlung ihrer Essstörung in die Klinik kamen. Wir sehen Kinder, die bei einem therapeutischen Spaziergang an der frischen Luft zwischen Mutter und Krankenschwester hinterhergezogen werden. Wir sehen ein kleines, stilles Mädchen, dass mit seiner Familie vor dem Krieg geflüchtet ist und dem seine Prinzessinnen-Allüren nun abgewöhnt werden sollen. Wir sehen Kinder, die sich nicht vom medizinischen Personal untersuchen lassen wollen und deren Mütter angeleitet werden, sich räumlich immer weiter von ihrem verunsicherten Kind zu entfernen, um dieses Verhalten zu sanktionieren.
Was wir hier beobachten sind einfachste psychologische Konditionierungsmittel, die zweifelsohne funktionieren aber nichts mit Heilung, sondern hauptsächlich etwas mit Manipulation zu tun haben. Ansätze, die durch die Bindungsforschung längst überworfen wurden. Denn Heilung – das sagt Dietmar Langer in einem Interview mit der Zeit selbst – erfahren Kinder nur durch den langwierigen Aufbau einer sicheren Bindung.
Kinder sind keine Tyrannen
Dass diese ausgerechnet über Verhaltensanpassung, Machtkämpfe und Unterwerfung wieder hergestellt werden soll, wirkt fast schon absurd. Denn man muss kein Fachmann sein, um zu erkennen, dass diese Kinder nicht um Macht kämpfen, sondern um Liebe und Halt. Und das ist nicht ihre Schuld. Auch nicht unbedingt die ihrer Eltern. Denn eine Bindungsstörung kann viele Ursachen haben und bis in die Zeit der Schwangerschaft und Geburt zurückreichen. Sie kann genetische oder epigenetische Wurzeln haben oder das Ergebnis eines Traumas sein. Aber natürlich haben einige dieser Kinder auch erzieherische Gewalt erfahren und sind dadurch bindungskrank.
Umso mehr ärgert mich der verallgemeinerte Blick auf Kinder, der hier propagiert wird. Da ist die Rede vom Boss, von der Prinzessin und vom kleinen Strategen, der mit seinem Verhalten manipulieren will und dem die Macht genommen werden muss. Dadurch lässt uns der Film stellenweise mit dem Eindruck zurück, dass Kinder berechnende Tyrannen sind, obwohl es sich um schutzbedürftige Menschen handelt, die ihr eigenes Verhalten doch auch nur von ihren Bezugspersonen lernen und die (und das macht den Unterschied) einfach keine anderen Werkzeuge zur Verfügung haben, um auf ihre seelische Not und ihr Defizit an Wertschätzung und Geborgenheit aufmerksam zu machen.
Und trotz all dieser Szenen schafft es der Film, die Kinobesucher stellenweise versöhnlich zu stimmen. Dietmar Langer scheint selbst ein kluger Stratege zu sein und so bewegen sich viele der Zuschauer im Kino ständig zwischen Aversion und Sympathie für den Psychologen. Trotz der betrübten Stimmung im Saal hört man das Publikum immer wieder lachen oder zustimmend brummen.
Bei mir und meiner Freundin Jessi hingegen dominiert ein Gefühl der Ohnmacht. Jessi ist selbst Sozialarbeiterin in der Pädiatrie und beschreibt die Situation im Kino rückblickend so:
„Ich sehe den Film und spüre eine andauernde, innere Ohnmacht darüber, dass weder ich von meinem Kinosessel aus, noch einer der Akteure in dem Film das stillen, wonach die Kinder rufen: Einem emotionalen Gefühl von Schutz, Geborgenheit und mütterlicher Wärme. Stattdessen werden sie in ihrem Verhalten korrigiert und angepasst.“
Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und behaupten: Sie wurden gebrochen.
Seit wir den Film gesehen haben, gehen uns die Bilder von den kleinen Menschen in Not nicht mehr aus dem Kopf. Besonders erdrückend ist das Gefühl, dass sie dabei zwar sehr nah von einer Kamera begleitet wurden, nicht aber von menschlicher Nähe. Die Aufnahmen des Klinikpersonals der Gelsenkirchener Klinik bleiben in Erinnerung. Die Schwestern, die während des Aufenthalts viele der elterlichen Aufgaben übernehmen, wirken anteilnahmslos – strahlen eine gewisse Härte und Überlegenheit aus. Kinder und Eltern werden zu Arbeitsobjekten. Aber vielleicht ist ihr Leidensweg anders nicht zu ertragen.
Der Zweck heiligt nicht die Mittel.
Die Eltern im Film sind völlig am Ende. Ebenso ihre Kinder. Und so kommt man nicht umhin, dem Film zuzugestehen, dass diese Familien Soforthilfe brauchen, um schlimmeres abzuwenden und um das Kindeswohl nicht zu gefährden. Doch ironischerweise ist genau das eine sehr häufige und laute Kritik am Film: Gegner wie Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster fürchten in Anbetracht der Methoden der Klinik nämlich vor allem um eins: Das Kindeswohl.
Dietmar Langer wehrt dies ab und verweist darauf, dass viele der wertvollen Therapiemethoden der Gelsenkirchener Klinik im Film gar nicht gezeigt werden – wodurch ein sehr lückenhaftes Bild entstehe. Die Dokumentation zeige nicht die Ganzheitlichkeit des Behandlungsprogramms. So wird die Verhaltenstherapie von systemischer Familientherapie, von Gesprächstherapie, autogenem Training, Kuscheleinheiten und von tiefenpsychologischen Therapiemethoden begleitet – und das meist lange über die stationäre Aufnahme hinaus.
An den verfilmten und stark kritisierten Methoden ändert das aber nichts.
Oder heiligt der Zweck die Mittel?
Ich finde nicht und frage mich ernsthaft, wo sich die allgemein anerkannte Schwelle zur (erzieherischen) Gewalt in unserer modernen Gesellschaft aktuell befindet. Denn für mein Empfinden wird sie in diesem Film mehrfach übertreten. Andererseits ist das, was Dietmar Langer und sein wenig warmherzig anmutendes Team praktizieren, genau das, was wir seit vielen Jahrzehnten in unserer Gesellschaft als gängiges Erziehungsmodell definieren: Normgerechtes Verhalten hat positive Konsequenzen, unerwünschtes Verhalten hat negative Konsequenzen. Und auch wenn ich die Wirksamkeit dieses Prinzips nicht bezweifle, möchte ich doch nach dem Preis fragen, den die Kinder dafür zahlen. Wir alle sollten überlegen, was für eine Art von Menschen wir dadurch formen und was der Verlust des Selbstwertes für das weitere Leben dieser Kinder bedeutet. Ist dieser Umgang mit Kindern nicht der Anfang einer Abwärtsspirale?
Nun könnten Befürworter des Films natürlich sagen: Aber es ist doch offensichtlich, dass es sich hierbei um Familien im Ausnahmezustand handelt. Müssen wir also wirklich öffentlich über die allgemeine gesellschaftliche Haltung gegenüber Kindern und die damit verbundenen Erziehungsmethoden sprechen?
Ich finde schon.
Und genau darin liegt die Chance, die dieser polarisierende Film uns gibt.
Die Elternschule – Ein Muss für alle die Kinder haben
Ein großer Kritikpunkt ist für mich, dass der Film einen gewissen Anspruch auf erzieherische Allgemeingültigkeit ausstrahlt, obwohl das, was er dokumentiert, sich in einer psychosomatischen Nische mit stresserkrankten und bindungsgestörten Familien abspielt. Und auch wenn Herr Langer mittlerweile selbst zurückrudert und betont, dass diese Dokumentation eben nicht als Lehrfilm für „normale“ Familien, sondern als Kaleidoskop zu verstehen sei, so wurde die angebliche Fehlinterpretation zumindest fahrlässig provoziert: Sowohl der Titel, als auch der gewählte Ausstrahlungsrahmen in deutschen Kinos, machen diesen Film zu einem (gezielten) Produkt für die Öffentlichkeit, statt zu einem Medium für den therapeutischen Austausch. Untertitel wie „Ein Muss für alle Eltern.“ oder „So geht Erziehung.“ erwecken den vielversprechenden Eindruck, dass es hier eben doch alltagstaugliche Anregungen für alle Eltern gibt. Dietmar Langer wiederum betont, dass er keinerlei Einfluss auf Szenenauswahl, Pressetexte oder das Marketing hatte. Und doch war er Teil, wenn nicht sogar Mittelpunkt, der Kinotour eines Films, dessen Vermarktung sich ihm angeblich entzieht. Aha.
Aber selbst wenn wir die Anwendbarkeit für die Durchschnittsfamilie ausklammern, bleibt die Frage nach der Schutzbedürftigkeit und Würde der behandelten Kinder bleiern im Raum stehen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Dieser oberste Grundsatz unseres Rechtssystems hat übrigens keine Altersbeschränkung. Er ist in Hinblick auf den Embryonenschutz sogar noch vor der Geburt eines Menschen wirksam. Darüber hinaus leben wir in einer Gesellschaft, die offiziell die Menschenrechte von Amnesty als gültig anerkennt. Diese besagen, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Und, dass jeder Mensch dazu verpflichtet ist, die Menschenrechte seiner Mitmenschen zu respektieren. Und ich persönlich finde, dass das Drehen und Ausstrahlen eines solchen Films hier an ethische und moralische, wenn nicht sogar gesetzliche Grenzen stößt. Denn dieser Film zeigt Gewalt. Erzieherische Gewalt. An den schwächsten und wehrlosesten Menschen unserer Gesellschaft. Den Kindern.
Dass so viele Menschen diesen Film dennoch für vertretbar und pädagogisch wertvoll halten, liegt vermutlich daran, dass die (rückständige und bindungsschädliche) Auffassung von Erziehung, die dieser Film verkörpert, unserer Gesellschaft noch immer in den Knochen steckt und in vielen Köpfen als der einzig richtige Weg weiterlebt. Kein Wunder, haben es viele dieser Menschen doch selbst so erlebt und selbst so gemacht. Erschreckend viele Bücher, Mediziner, Hebammen und Pädagogen empfehlen auch heute noch diese Methoden und das macht deutlich, dass es abseits aller wiederlegenden Erkenntnisse aus der Bindungsforschung, immer noch eine große Lobby für die Notwendigkeit von Härte, Unterwerfung und Gehorsam gibt. Diese Lobby verschwindet natürlich nicht über Nacht. Ein Blick auf die Geschichte der Frauenrechte macht deutlich, dass gesellschaftliches Umdenken eben Zeit braucht. An der Dringlichkeit ändert das aber nichts.
Und doch macht mir der Widerstand auf den die Elternschule stößt, Hoffnung, dass wir uns im Aufbruch zum Umdenken befinden.
Geteilte Meinungen
Ich gebe zu, dass die „Elternschule“ es auf wundersame Weise schafft, mit den Emotionen der Zuschauer zu spielen. Und so lassen die ausgelassen spielenden und lachenden Kinder in den Schlusseinstellungen des Filmes, die etwas weniger kritischen Zuschauer durchaus mit einem wohligen Gefühl der Harmonie zurück. Ziel erreicht. Kinder geheilt. Ende.
Doch so einfach ist es leider nicht. Und auch wenn das Gespräch mit Dietmar Langer an diesem Abend ausfallen muss, so bleibt man trotzdem etwas länger im Kino, um sich auszutauschen und herauszufinden, mit welchen Gefühlen und Eindrücken die anderen Zuschauer das Kino verlassen. Ziemlich schnell wird klar, dass die Meinungen über das Gesehene weit auseinander gehen und ich konnte keinerlei menschliche Schubladen oder pädagogische Stereotypen dahinter erkennen. Es war unvorhersehbar. Von „Das hab ich mir schlimmer vorgestellt.“ bis „In was für einer grausamen Welt leben wir?“ war alles dabei.
Mich lässt der Film betroffen zurück.
Darüber, dass DAS die Hilfe ist, die in Not geratenen Familien angeboten wird.
Darüber dass, einige Menschen glauben, dass Kinder SOWAS verdient haben.
Darüber, dass sich so wenige von uns fragen, WAS es mit diesen Kindern macht, wenn sie eines Tages verstehen, dass sie gebrochen wurde.
Und das ihr Schicksal ein Kinohit war.
von Romy
Mehr von Romy findest du bei Instagram: @slowmothering
Tipp:
Wer sich mit den Alternativen beschäftigen möchte, findet auf der Internetseite von Dr. Herbert Renz-Polster weiterführende Texte und Verlinkungen zu bindungsorientierten Interventionen: www.kinder-verstehen.de