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Ich erinnere mich noch recht klar an meine Schulzeit. Ich war etwa 12 Jahre alt, als ich zum ersten Mal Schlagmann in einem Drachenboot war und ich höre noch heute das rhythmische Trommeln in meinem Ohr. Ja, ich war Schlagmann – denn die sprachliche Gleichstellung der Frau war nur eins von den Themen, die damals noch kein so großes öffentliches Bewusstsein genossen. Wenn ich die Augen schließe und an den monotonen Rhythmus der Trommel und das gleichmäßig gleitende Boot voller Ruderer denke, wünsche ich mich manchmal zurück in diese einfache und berechenbare Zeit, in der die Tage zuverlässig in meinem scheinbar selbst getrommelten Tempo vergingen.
Heute ist das anders. Das Leben ist schneller und komplizierter. Der Terminplaner ist voll. Und auch wenn das meiner Mutter früher bestimmt ähnlich ging, so trägt unser Zeitgeist nach meinem Empfinden ein ganz besonderes Accessoires. Eine Uhr, auf der immer steht: Zu spät.
Zumindest haben die meisten Menschen in unserer schnelllebigen Kultur stetig das Gefühl, nie genug Zeit zu haben. Und so wächst mit dem irrsinnigen Tempo unserer digitalen Welt bei vielen Menschen auch der Wunsch nach Entschleunigung.
Slow Living statt Multitasking
Unser Familienalltag ist ein organisatorisches Meisterwerk. Und es gibt sogar einige eifrig strebenden Menschen, die der Ansicht sind: Was in den Terminkalender passt, ist auch machbar. Organisatorisch vielleicht. Aber emotional und energetisch? Eher nicht. Weder für uns Eltern, noch für unsere Kinder.
Julia Dibbern und Nicola Schmidt, die zwei Pionierinnen der Artgerecht Bewegung, haben zu diesem Thema bereits 2016 das Buch „Slow Family“ veröffentlicht, in dem sie beschreiben, wie der Familienalltag heutzutage eigentlich sein sollte. Nämlich: Langsam. Achtsam. Echt.
Aber aus Sorge um die Zukunft ihrer Kinder verfallen manche Eltern in einen regelrechten Förderwahn. Der Leistungsdruck der Gesellschaft ist groß – die Angst, dass das eigene Kind später darin nicht bestehen kann auch. Und so erliegen wir schnell dem Irrglauben, dass alles was unsere Kinder tun, einen Mehrwert haben und Lernen immer standardisiert oder messbar sein muss.
Das stimmt aber nicht. Kinder brauchen keinen ständigen, forcierten Input oder andauernde Animation, um sich gesund zu entwickeln. Im Gegenteil. Insbesondere das freie Spiel ist von großer Bedeutung für die Hirnentwicklung, weil es die Bildung wichtiger Nervenbahnen und stabiler neuronaler Strukturen fördert.
Laut Gerald Hüter kommt keine andere Spezies mit einem derart unreifen aber eben auch lernfähigen und beeinflussbaren Gehirn zur Welt, wie wir Menschen. Und keine andere Art ist bei der Entwicklung des Gehirns so sehr von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz einer erwachsenen Bezugsperson abhängig wie wir. Kinder brauchen also in erster Linie feste Bindungen, um sich gesund entwickeln zu können und keine ständige Stimulation oder Förderung. Bindung entsteht durch Nähe, Geborgenheit und Liebe. All das kostet nichts, außer Zeit.
Zeit, die in unserem Alltag knapp ist. Die 24 Stunden die wir jeden Tag geschenkt bekommen, sollten wir also weise nutzen. Wer sein (Familien)Leben entschleunigen möchte, muss es wohl oder übel auch entschlacken. Zeit- und Energiefresser lauern vermutlich in jedem Alltag. Diese kleinen Parasiten zu finden, kostet allerdings etwas Überwindung und Ehrlichkeit zu sich selbst. Sie sind überall. Und das Schlimmste: Sie sind längst Gewohnheit.
Sie wohnen in unseren eigenen Ansprüchen und Glaubenssätzen. In unseren Smartphones und Laptops. In unserer Unachtsamkeit und unserem Verantwortungsgefühl. In den kleinen Versuchungen und großen Versprechungen. Und in unserem Drang, alles auf einmal schaffen zu wollen.
Wir müssen lernen, Prioritäten zu setzen und nein zu sagen.
Eine gestresste Mama ist kein fruchtbarer Boden für eine entspannte Familie. Dabei ist ein Nein zu anderen, vor allem eins: Ein Ja zu uns selbst. Und zu unserer Familie. Wir müssen uns Zeit nehmen für unsere Entscheidungen und das auch unseren Mitmenschen zugestehen. Achtsame Entscheidungen sparen unnötige, zeitkostende Irrungen und Wirrungen. Zudem sollten wir uns und die Menschen in unserer Familie aufmerksam beobachten und immer wieder ehrlich hinein spüren, was zu viel ist und was gerade wirklich wichtig ist: Denn die Terminfalle schnappt schleichend zu. Zwischen all den Verpflichtungen, Verabredungen, Hobbys und Projekten brauchen wir ja auch noch Raum und Zeit um zu atmen, zu lieben und zu sein.
Slow Parenting ist ein Lebensprinzip, dass einerseits von Flexibilität und Spontanität, anderseits aber auch von Struktur lebt. Diese Struktur hilft, über den Moment hinaus Prioritäten für den Alltag zu setzen. Denn wer ausschließlich planlos plant, wird unter Umständen von seinen Aufgaben überrollt. Das wird vor allem dann stressig und somit kritisch, wenn viele Menschen am System beteiligt sind, wie in einer Familie. Wer den Weg des Slow gehen will, der muss es bewusst tun und sich abgrenzen. Das kann unter Umständen bedeuten, sich einem gängigen Lebens- und Erziehungsstils zu verweigern. Das erfordert ein Stück weit Mut. Und Achtsamkeit, damit wir unseren Fokus auf unser Inneres und unseren inneren, sozialen Kreis richten können. Um uns herum herrschen so viele Ablenkungsmöglichkeiten, dass ich mich frage, ob wir überhaupt noch wissen, was wir wirklich denken und wollen. Und warum.
Und auch unsere Kinder laufen durch die ständige exogene Stimulation Gefahr, sich selbst zu verlieren. (Früh)Förderung, Smartphone, Spielkonsole, YouTube und Werbung, aber auch der gesellschaftliche Leistungs- und Zeitdruck sind unweigerliche Einflussfaktoren denen wir uns vielleicht nicht völlig entziehen können, deren Auswirkungen auf die Entwicklung unserer Kinder wir aber keinesfalls unterschätzen sollten. Im Slow Parenting ist daher auch die Ursprünglichkeit und Verbundenheit mit der Natur von großer Bedeutung.
Öfter offline, statt online. Stille einladen, Reizüberflutung ausladen. Im Moment sein.
Denn Langeweile ist ein Geschenk. Insbesondere für unsere Kinder.
Ein gelangweiltes Kind ist anstrengend. Darum zücken Eltern meist recht intuitiv die Animationskeule. Und auch in der glitzernden Konsumwelt werden reichlich Ideen, Strategien, Spielzeuge und Aktivitäten angeboten, um die Langeweile zu verhindern. Familien sind zu Konsumenten geworden, die Gefahr laufen die Verbindung zu sich selbst durch die ständige externe Stimulation zu kappen.
Viele Kinder sind bereits in jungen Jahren simulationssüchtig. Und ein Kind, dass Langeweile nie erlebt {und ausgehalten} hat, wird auch später höchstwahrscheinlich zum Reizjunkie und Multitasking Mutanten. Langeweile ist der Schlüssel zur inneren Balance – in jedem Alter, wie Jesper Juul sagt. Wer die Unruhe vorbeiziehen lässt, kommt in Kontakt mit seiner Kreativität und Gestaltungslust. Sie ist der Raum, in dem wir uns überhaupt erst selbst verwirklichen können. Die anfangs unangenehme Stille wird dann zu innerem Frieden. Zu einem Kraftort.
Langeweile gehört nachweislich zu den wichtigsten Triebfedern der kindlichen Entwicklung. Wenn wir also wollen, dass unsere Kinder die selbstliebenden und friedvollen Menschen bleiben, die sie bereits bei ihrer Geburt waren, müssen wir ihnen nicht nur Liebe und Geborgenheit schenken, sondern eben auch den „langweiligen“ Freiraum sich selbst und andere zu entdecken. Die meisten Experten empfehlen daher, höchstens zwei Termine, besser nur einen pro Woche für ein Kindergartenkind einzuplanen und auch Schulkindern ausgedehnte “Freizeiten” einzuräumen. Von der Schule kommen und gleich wieder lernen oder Hausaufgaben machen? Ein (entwicklungspsychologisches) No Go, wenn ihr mich fragt. Wenn Kinder ständig Leistung erbringen müssen, gehen sie nicht nur körperlich, sondern auch geistig richtig kaputt. Sie brechen unter der Last und der Leere zusammen. Da zählt für mich auch das Argument der lebensvorbereitenden Abhärtung nicht. Wie soll aus einem kaputten Kind, ein heiler Erwachsener werden? Nein, Kinder müssen nicht abgehärtet sondern gestärkt werden.
Langsam für die Welt von morgen
Slow Parenting ist also nicht nur eine fluxe oder faule Idee, die das Leben aus reiner Bequemlichkeit in Slow Motion abspielen möchte. Es geht, wie so oft im Leben (mit Kindern) um E-Motion. Und Hoffnung. Denn am Ende tun wir das nicht nur für uns oder die Gegenwart unserer Kinder. Wir tun es für das große Ganze. Für die Zukunft dieser Erde. Die eines Tages vielleicht bevölkert sein wird von Menschen, die Frieden in sich tragen. Menschen, die nicht völlig gehetzt sind und unter Druck stehen. Menschen, die Prioritäten erkennen und setzen können. Menschen, die langsamer leben und überlegter konsumieren, weil sich ihre ursprüngliche Offenheit, Beziehungsfähigkeit, Neugier und Gestaltungslust frei entfalten durfte und nicht in eine destruktive Richtung gelenkt wurde.
Um es kurz zu machen:
Weniger ist mehr. Das gilt für alles. Außer für die Liebe.
Eure Romy